LEBEN UND WERK

AUGUST MACKE 1887–1914

August Macke zählt zu den bedeutendsten Künstlerpionieren am Beginn des 20. Jahrhunderts. Unermüdlich experimentiert er mit Formen und Farben – auf der Suche nach einer neuen Kunstsprache. Der belesene und aufgeschlossene junge Mann sucht nach einem künstlerischen Ausdruck, der den revolutionären Errungenschaften auf geistigen und naturwissenschaftlichen Gebieten Rechnung trägt. Dabei agiert Macke unabhängig von bürgerlichen Konventionen und von der vorherrschenden konservativen Kunstauffassung. Vor allem die französische Moderne wird ihm dabei zur wichtigsten Inspirationsquelle.

I. Balance am Rande des Abgrunds
1914, in seinem letzten Schaffensjahr, malt der 27-jährige August Macke das Bild eines Seiltänzers. Der Eindruck einer Varietévorstellung auf dem Marktplatz in Thun (Schweiz) wird zum Gleichnis des modernen Künstlers. Erlebtes und Erdachtes verschmelzen zu einer neuen Wirklichkeit. Geradezu waghalsig agiert der Artist, der weit über den Köpfen der Zuschauer in Höhe der Häusergiebel über dem Marktplatz balanciert. Die Figur des Seiltänzers symbolisiert die fragile gesellschaftliche Situation des modernen Künstlers, der sich abseits der offiziellen Pfade und Konventionen bewegt. So steht der Seiltänzer stellvertretend auch für August Macke selbst. Heute ist Macke einer der beliebtesten Künstler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er gilt als heiterer, zugänglicher Expressionist. Gemälde aus seinen bedeutenden Werkphasen erzielen bei Auktionen Preise von über 2 Millionen Euro. Zu seinen Lebzeiten ist von dieser Begeisterung jedoch kaum etwas zu spüren. Unter Kunst stellt sich der zeitgenössische Betrachter etwas ganz Anderes vor und gerade die ungewohnte Farbenfreudigkeit stößt auf großes Unverständnis. Mit seiner neuen Malweise läuft Macke jederzeit Gefahr, seine Existenz zu verlieren – genau wie der Seiltänzer in seinem Bild. Vor dem Hintergrund der deutschen Kaiserzeit und ihren engen gesellschaftlichen Vorgaben erweist sich Mackes Leben und seine künstlerische Entwicklung als konsequenter, aber auch immer wieder beschwerlicher Weg. Um die Jahrhundertwende stehen viele europäische Künstler vor der gleichen Situation. Artisten- und Gauklerthemen dienen nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Literatur als Metapher für die ambivalente Zwangslage zwischen genialem Höhenflug und existentieller Gefährdung.

II. Ausbildung, künstlerische Anfänge
Am 3. Januar 1887 wird August Robert Ludwig Macke in dem kleinen Ort Meschede in der westfälischen Provinz geboren. Seine beiden Schwestern Auguste und Ottilie sind viele Jahre älter. Der Vater ist selbstständiger Bauunternehmer, die Mutter stammt von einem Bauernhof. Macke wächst in Köln, dann in Bonn auf. Seine Kindheit wird überschattet von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten der väterlichen Firma. Schon als Schüler hat Macke nur das Zeichnen im Kopf und gestaltet Bühnenbilder von Schulaufführungen maßgeblich mit. Gegen den Wunsch des Vaters bricht er mit 17 Jahren die Schule ab, um Künstler zu werden, und nimmt das Studium an der renommierten Düsseldorfer Kunstakademie auf. Bei seinen Professoren gilt der junge Student als außergewöhnlich begabt. Das konservative Ausbildungskonzept entspricht Mackes Vorstellungen jedoch überhaupt nicht. Das Malen von Historienbildern mit der Darstellung bedeutender Ereignisse der Geschichte oder Gegenwart gilt wie seit Jahrhunderten noch immer als höchstes Ziel der akademischen Ausbildung. Ebenso die handwerkliche Perfektion des Zeichnens, um ein möglichst exaktes Abbild der Wirklichkeit zu schaffen. Alles dies hat mit den Neuerungen der eigenen Zeit nur wenige Berührungspunkte. Macke sucht andere Anregungen für seine Kunst: in Büchern, den immer zahlreicher auf dem Markt erscheinenden Kunstzeitschriften, in Ausstellungen und in der Natur selbst. Letztere ist in seinen frühen Bildern Stimmungs- und Bedeutungsträger und damit Symbol für seine ganz persönlichen Empfindungen. Die Gestalt eines Baumes, die Bewegung der Wellen im Wasser, der Zusammenklang von Mensch und Natur sowie die verhaltene Farbigkeit unterstreichen die romantische Stimmung und die Nähe zum Symbolismus.

III. Der französische Impressionismus als Inspirationsquelle – Reisen nach Paris
Spannendere Eindrücke erhält Macke an der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule, wo er Abendkurse belegt. An dieser Ausbildungsstätte für zukünftige Kunsthandwerker haben Reformideen bereits Eingang gehalten. Darüber hinaus sammelt Macke praktische Erfahrungen am Düsseldorfer Schauspielhaus. Das neu gegründete Theater wird durch die lebendige Aufführungspraxis moderner Stücke zur Reformbühne. Als Bühnenbildner und Kostümentwerfer hat Macke an der Umsetzung entscheidenden Anteil. „Ich würde Stimmungen durch Vorhänge und Farben allein machen, ohne Nachahmung der Natur“, formuliert er seine revolutionären Vorstellungen. Den bisher eingeschlagenen Weg empfindet er als Sackgasse. Er hängt seine Akademieausbildung an den Nagel und schlägt auch die ihm angebotene feste Stelle als Bühnenbildner aus. Dazu gehört viel Mut und eine ordentliche Portion Selbstbewusstsein. Er will frei sein von äußerlichen Zwängen und seine eigene Kunstsprache entwickeln, auch wenn das nicht nur finanziell ein großes Wagnis bedeutet. Als er 1907 Fotografien von Gemälden französischer Impressionisten sieht, eröffnen diese ihm eine neue Welt – obwohl es sich lediglich um Schwarz-Weiß-Abzüge handelt. Es ist die Hinwendung zur eigenen Lebenswirklichkeit sowie die völlig neue Malweise, die ihn an diesen Bildern fasziniert. Und so hat er nichts Eiligeres zu tun als direkt nach Paris zu fahren, in das Mekka der modernen Kunst. Wie so viele seiner von der Akademie enttäuschten jungen Zeitgenossen lässt er die Originale der Bilder in den Kunsthandlungen von Durand-Ruel, Vollard und Bernheim-Jeune auf sich wirken. Im Café du Dôme hat sich sogar ein deutscher Treffpunkt für alle die Suchenden etabliert, für Künstler, Galeristen und Sammler. Macke lernt neu zu sehen und wendet sich einer impressionistischen Lichtmalerei zu. Auf zwei weiteren Reisen nach Paris 1908 und 1909 festigt er die Auseinandersetzung mit der Moderne.

Ach, Paris ist sicher die schönste Stadt der Welt. [...] Die Impressionisten werden mir immer lieber.
August Macke 1907 aus Paris

Ich bin momentan so überzeugt von der Güte der französischen Schule wie nie.
August Macke 1910

IV. Farbige Bildwelten mit fauvistischen Anklängen
Impressionismus und Japonismus, für den Macke sich ebenfalls begeistert, befreien ihn von den Traditionen. Trotzdem spürt er, dass hier nicht der Endpunkt seiner malerischen Entwicklung liegt. Nach Ableistung des einjährigen Militärdienstes beginnen ein neuer Lebensabschnitt und eine neue künstlerische Phase. 1909 heiratet er seine Jugendfreundin Elisabeth Gerhardt. Wegen der vorehelichen Schwangerschaft – damals ein Skandal – zieht sich das junge Paar aus Bonn zurück und überlegt sogar, sich in Paris niederzulassen. Die Mieten sind jedoch zu hoch, sodass die Wahl schließlich auf Tegernsee bei München fällt. Elisabeth ist Muse, Modell und, wie Macke selbst schreibt, sein „zweites Ich“. Eingang in seine Bildwelten finden zudem die Umgebung und die alltäglichen Haushaltsobjekte, die mangels eines Ateliers im Wohnzimmer arrangiert werden. Die Farben strahlen in die Fläche und beginnen ein Eigenleben zu führen. Der Betrachter wird mit einem dekorativen Gesamtklang konfrontiert, mit farbigen Umrisslinien und ungewöhnlichen Bildausschnitten. Dabei zeigt sich der Einfluss der französischen Fauvisten, der modernen Ausstellungsgemeinschaft um Henri Matisse in Paris, deren Werke Macke im Februar 1910 in München faszinieren. Aber noch eine andere Schau entfaltet ihre Wirkung: die „Ausstellung von Meisterwerken Muhammedanischer Kunst“, zu der Henri Matisse eigens aus Paris nach München reist. Zeugnisse fremder Kulturen inspirieren die modernen Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenso wie eine Bildauffassung, die von der europäischen Tradition weit entfernt ist. Für die neue Stilrichtung wird um 1910 der Begriff „Expressionismus“ lanciert, um den Gegensatz dieser Malweise zur Stilrichtung des Impressionismus begrifflich auf den Punkt zu bringen.

Das Angebot, ein eigenes Atelier ganz nach seinen Vorstellungen zu erhalten, bewegt August Macke, zusammen mit seiner Frau Elisabeth und dem kleinen Sohn Walter, Ende 1910 von Tegernsee in die alte Heimat Bonn zurückzukehren. Seine Schwiegermutter stellt ihnen am Rande des Fabrikgeländes ihrer Firma Gerhardt ein kleines Haus im spätklassizistischen Stil zur Verfügung, dessen Dachgeschoss nach Mackes Plänen zu einem geräumigen Atelier ausgebaut wird. Bis zu Mackes Einberufung zum Kriegsdienst am 2. August 1914 ist sein neues Zuhause die Schaltzentrale seiner vielfältigen kunstpolitischen Aktivitäten. Künstlerfreunde wie Robert Delaunay, Max Ernst und viele andere gehen hier ein und aus. Zahlreiche seiner bekanntesten Gemälde entstehen in dem hellen Dachatelier und bei einem Besuch von Franz Marc 1912 malten die beiden dort ein großes Paradiesbild auf eine vier Meter hohe Wand. Der angrenzende große Garten ist das Spielparadies der Kinder und ein wichtiges Bildmotiv.

V. Nationale und internationale Vernetzungen – Die Künstlerfreundschaft zwischen August Macke und Robert Delaunay
Die von der französischen Avantgarde beeinflussten modernen Stilrichtungen, die Künstler, ihre Galeristen und Sammler, erregen im deutschen Wilhelminischen Kaiserreich nicht nur Missfallen, sondern machen sich auch der Anbiederung an den Erb- und Erzfeind Frankreich verdächtig. „Verrückt“, „geisteskrank“ oder „entartet“ betitelt die Presse expressionistische Künstler wie August Macke und ihre Arbeiten. Ausgeschlossen von den offiziellen Ausstellungsmöglichkeiten müssen sie die Vermarktung ihrer Werke selbst in die Hand nehmen und gründen unabhängige Verbände. Macke wird zwischen 1911 und 1913 zu einem bedeutenden kunstpolitischen Motor und begnadeten Netzwerker im Rheinland, in München und Berlin. Rhetorisch geschickt, extrovertiert und von einnehmender Persönlichkeit knüpft er Kontakte, organisiert Ausstellungen und hält Vorträge. „Er kann riesig fein Reklame machen u. ist geschickt im Auftreten“, äußert der russische Kollege Wassily Kandinsky (1866–1944) anerkennend. Neue Käuferschichten sind zu erschließen, vor allem aber gilt es Verständnis für die moderne Kunst zu wecken. Dazu vernetzen sich die deutschen modernen Künstler untereinander, aber auch über die Landesgrenzen hinaus. Nicht nur nach Russland, in die Schweiz und nach Skandinavien, sondern vor allem nach Frankreich und Paris bestehen enge Kontakte. Macke befreundet sich mit Robert Delaunay, den er zusammen mit Franz Marc 1912 in seinem Pariser Atelier besucht. Im Januar 1913 macht Delaunay mit Guillaume Apollinaire in Bonn bei Macke Station. Beide Künstler tauschen sich fortan immer wieder aus, über Kunst und ganz Privates und arbeiten gemeinsam an der internationalen Verflechtung der Moderne. So ist Delaunay wiederholt eingeladen, mit seinen modernen Bildern auf den von August Macke und seinen Künstlerfreunden organisierten Ausstellungen der Avantgardekunst auszustellen, auf der Wanderausstellung des Blauen Reiter (1911/12) und im legendären Ersten Deutschen Herbstsalon in Berlin (1913). Der Berliner Mäzen Bernhard Koehler, Onkel von Mackes Frau und einer der wenigen, der „lebendige Kunst“ sammelt, unterstützt Macke und seine Freunde bei ihren Ausstellungs- und Buchprojekten finanziell. Er ist auch Mackes eifrigster Käufer. Und: er erwirbt zwei Bilder von Robert Delaunay für seine Sammlung.

Ein Kunstwerk muss gut gelogene Natur sein, eine gut getroffene Auswahl, ein Spiegel der Empfindungen.
August Macke um 1912

VI. Kubistische und futuristische Stilmittel eröffnen neue Möglichkeiten
Industrialisierung und technische Erfindungen verändern das Erscheinungsbild der Städte und den Lebensalltag der Bewohner. Um 1911 sucht Macke nach neuen malerischen Mitteln, um dies zu veranschaulichen. Anregungen findet er wiederum in den aktuellen Strömungen der französischen, aber auch der italienischen Malerei, bei der Vorhut des Neuesten, der Avantgarde: bei den Kubisten und Futuristen. Auf der gemeinsamen Reise mit seinem Künstlerfreund Franz Marc nach Paris sieht er deren Arbeiten, etwa bei Vollard, aber auch in verschiedenen kleinen Galerieausstellungen in Deutschland werden Werke von Georges Braque, Pablo Picasso und der Futuristen ausgestellt. Zerlegung der Gegenstandsformen in ihre Einzelteile, auf Linien reduzierte Objekte, rhythmische Formwiederholungen, kleine, zerhackte, geometrische Schnipsel, diese Stilmittel greift Macke in seinen Zeichnungen und Gemälden auf. Damit kann er Bewegung verdeutlichen und gleichzeitig das Rasante, Lärmende, kurzum die pulsierende Hektik und den technischen Fortschritt zum Ausdruck zu bringen – als beinahe abstraktes Muster oder auf seine Figuren einstürzend. Zahlreiche Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen 1912 und 1913 zeugen von der Anerkennung durch die aufgeschlossene Kunstszene. „Im übrigen bringt die Malerei immer soviel ein, daß es besser wäre, man faulenzte”, beklagt sich Macke allerdings über ausbleibende Verkäufe. Es braucht Durchhaltevermögen, den Anfeindungen immer wieder standzuhalten und den künstlerischen Weg gegen den Zeitgeist zu beschreiten, zumal Macke zum Unterhalt der Familie mit den zwei kleinen Söhnen beitragen muss. Die regelmäßige monatliche Unterstützung aus der reichen Familie seiner Frau reicht nur für das Grundlegende. Aber er formuliert selbstbewusst: „Mich interessiert nachgerade die Meinung anderer über meine Bilder überhaupt nicht mehr.”

VII. Kunsthandwerk als Teil der Lebensgestaltung
Kunst und kunsthandwerkliche Gebrauchsgegenstände sind für Macke eine „Form von Leben“ und gehören zusammen. Es ist ein wichtiges Anliegen der Expressionisten, ihr Lebensumfeld nach den eigenen modernen Vorstellungen als Gesamtkunstwerk auszugestalten. In seinem hellen Bonner Atelier mit dem großen Dachflächenfenster arbeitet er nicht nur an der Staffelei, sondern auch an der Hobelbank. Er bemalt Porzellan und entwirft Stickereien, die er oft direkt auf den Stoff vorzeichnet. Erste Stickmuster hat Macke bereits 1905 entworfen – aus Unzufriedenheit über die althergebrachten Motive. Seine Frau Elisabeth, ihre Mutter und Großmutter führen die Entwürfe aus. Anlässlich eines Vortrages von Macke trägt Elisabeth sogar ein Reformkleid nach seinen Entwürfen. Außerdem gestaltet Macke Türbeschläge, Büffet-Stützen, Schmuck und fertigt Möbel, Kissen und Teppiche für den privaten Gebrauch. Doch auch im kommerziellen Bereich sollen modern gestaltete Produkte die überlieferten, nicht mehr zeitgemäßen Muster ablösen. Wichtigstes Anliegen ist es, Deutschlands Ruf, der im 19. Jahrhundert wegen der minderwertigen Qualität und antiquierten optischen Erscheinung der Produkte gelitten hat, wiederherzustellen. Angeregt durch die Reformbewegung des Deutschen Werkbundes entwirft Macke 1912 funktionales und modernes Alltagsdesign für Gebrauchsgeschirr, das in den Exportmarkt geht. „Ich mache jetzt in Porzellan”, schreibt er an seinen Mäzen nach Berlin. Er schafft sich einen Namen als Gestalter und Entwerfer und erhält 1913 den Auftrag, in Köln die Gasträume eines Teesalons vollständig auszugestalten. Farbige Skizzen und zahlreiche Entwürfe vermitteln ein Bild von Mackes Konzeption, die wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nicht mehr realisiert wird.

Das Kunstwerk ist ein Gleichnis der Natur, kein Abbild. [...] es ist der Gedanke, der selbständige Gedanke des Menschen, ein Gesang von der Schönheit der Dinge.
August Macke 1913

VIII. Irdisches Paradies
Das Leben im Familienkreis mit seiner Frau und den beiden Söhnen betrachtet Macke als Glück, Kunst und Leben als „Durchfreuen der Natur“. Die positive Lebenseinstellung findet vor allem in den Bonner Jahren von 1911 bis 1913 ihre ganz eigene künstlerische Ausprägung. In seinen Bildwelten entwirft er varianten- und facettenreiche Darstellungen eines irdischen Paradieses. Seine Werke erweisen sich als Vision eines harmonischen Weltzustandes und sind als „Gesang von der Schönheit“ (Macke) zugleich ein Gegenentwurf zu seiner durch technische Neuerungen und Industrialisierung geprägten Zeit. Während die großen Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts in Paris und London die Südsee oder der Orient als ferne Sehnsuchtsorte lokalisieren, verlegt Macke sein irdisches Paradies in das Diesseits der realen Welt. Alles Turbulente, Zerstörerische und Negative ist ausgeblendet. Der Garten erscheint als Ort der Muße und des Wohlbehagens, als reales Idyll. Als eine harmonische, ursprüngliche Einheit sind Mensch und Tier auch in Mackes Bildern von Zoologischen Gärten aufgefasst, ebenso seine Liebespaare und Familienszenen. Das harmonische Miteinander der Eheleute, wie es in Mackes Bildern erscheint, die gegenseitige Fürsorge und der Respekt füreinander, sind in bürgerlichen Kreisen der Zeit nicht immer selbstverständlich. Um die tiefe Verbindung des Paares zu versinnbildlichen, führt er mit den hockenden Figuren eine neue Formensprache ein, die aus dem Orientalischen entlehnt ist. In intimen, alltäglichen Szenen inszeniert Macke die Welt der Kinder, die natürlich und unbefangen in ihr Spiel vertieft erscheinen. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kind wird hier entsprechend der Reformpädagogik neu definiert, die Kinder nicht mehr als schmückendes Beiwerk betrachtet.

IX. Künstlerische Synthese
Um sich ohne Ablenkungen durch die Kunstpolitik wieder ganz der Kunst widmen zu können, verlässt Macke mit seiner Frau und den beiden kleinen Söhnen im Oktober 1913 das trubelige Rheinland. Für acht Monate lässt er sich in Oberhofen in der Schweiz nieder, unmittelbar am Thuner See. Die Wohnung in Haus Rosengarten liegt idyllisch direkt am Wasser, gegenüber dem beeindruckenden Panorama der Schweizer Bergwelt. Von den „sonnendurchleuchteten Fensterscheiben” (Macke) in den Bildern Robert Delaunays inspiriert, entwickelt er hier kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges seine ganz eigenständige Kunstauffassung. Die Natur als erlebte Erfahrung bleibt Ausgangspunkt, aber er verändert nun und kombiniert unterschiedliche Motive miteinander. Indem er die Werke aus Einzelformen wie eine gemalte Collage zusammenfügt, entstehen neue Bildwelten nach seinen Vorstellungen. Sie wirken realistisch, sind aber fiktiv. Motivisch wie in der prismatischen Zerlegung der Formen und Farben lässt sich in Mackes Schaufensterbildern der Einfluss seines Freundes Robert Delaunay deutlich nachvollziehen. Macke übersetzt die Abstraktionen des Franzosen jedoch in kontemplative, heitere Bildwelten. Da in der wirklichen Welt eher gedämpfte, triste Grautöne in Fassaden und im Stadtbild vorherrschen, ist die Farbigkeit von Mackes Bildern als Metapher zu lesen. Vierzehn Tage dauert die berühmte Tunisreise im April 1914, die Macke mit den Freunden Paul Klee und Louis Moilliet unternimmt. Das südliche Licht, die exotischen Motive: die Künstler fühlen sich wie im Märchen. „Es geht wie der Teufel, und ich bin in einer Arbeitsfreude, wie ich sie nie gekannt habe”, berichtet er. Er bringt unendlich viele Zeichnungen, Aquarelle und Fotografien nach Hause, die er später im Bonner Atelier weiter verwertet.

Diese raumbildenden Energien der Farbe zu finden, statt sich mit einem toten Helldunkel zufrieden zu geben, das ist unser schönstes Ziel.
August Macke 1913

Krieg ist von einer namenlosen Traurigkeit.
August Macke 1913

X. Erster Weltkrieg
Nach seiner Rückkehr nach Bonn im Sommer 1914 verfällt Macke in einen Schaffensrausch. Es entstehen seine bekanntesten Bilder. Der Künstler sieht seine Aufgabe darin, die Moderne durch eine neue Ästhetik mitzugestalten: Kinder vor der Kulisse einer industriellen Hafenlandschaft oder ein moderner, eiserner Gitterturm neben einer altehrwürdigen gotischen Kathedrale. Er sieht weniger die negativen Folgen des Neuen, die Vereinzelung und Entfremdung, sondern die sich eröffnenden Möglichkeiten. Als Österreich Ende Juli 1914 nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Serbien den Krieg erklärt, spürt Macke das heraufziehende Ende einer Epoche und den nahen Abbruch seines Schaffens. An der sofortigen Einberufung nach der Mobilmachung des Deutschen Reiches am 2. August 1914 führt kein Weg vorbei – Macke ist ausgebildeter Reservist und Vizefeldwebel. Am Anfang ist eine gewisse Begeisterung zu spüren – trotz der der engen freundschaftlichen und künstlerischen Verbindungen zu französischen und russischen Künstlerkollegen. Man hofft, der Krieg würde alles Alte hinwegfegen und dem Neuen endlich Raum schaffen. Doch nach der ersten großen Schlacht ist Macke völlig ernüchtert. Die Euphorie ist der Verzweiflung über „das Schreckliche” gewichen. Nur sieben Wochen nach Kriegsbeginn fällt Macke am 26. September 1914 in Perthes-lès-Hurles in der Champagne. Auf seiner Staffelei im Atelier bleibt ein düster wirkendes, nicht fertig gestelltes Bild zurück. Elisabeth bleibt nach Mackes Tod mit zwei kleinen Söhnen zurück. Sie hat nicht nur ihre große Liebe verloren, auch die Sorge um die junge Familie und die Verwaltung des künstlerischen Erbes lasten nun auf ihr. In einem erschütternden Nachruf beklagt Mackes Freund Franz Marc den unermesslichen Verlust für die deutsche Kunst: „Mit seinem Tode knickt eine der schönsten und kühnsten Kurven unserer deutschen künstlerischen Entwicklung jäh ab; keiner von uns ist imstande, sie fortzuführen.” Zwei Jahre später fällt auch er.

XI. Nachwirkungen
Die Wertschätzung unter den modernen Künstlerkollegen für August Macke ist enorm. Aber nur wenige Sammler sind auch als Käufer tätig geworden. Eine Ausnahme ist einzig Bernhard Koehler, der von Macke allein über 50 Werke besitzt. Kein einziges Museum hat zu Lebezeiten Mackes eines seiner Gemälde angekauft. Viele seiner Bilder hat der Künstler verschenkt, als Dank an Sammler oder für die Ausrichtung einer Ausstellung. Erst nach dem Ersten Weltkrieg beginnt die Wertschätzung der expressionistischen Malerei. Die vorher unverstandenen Künstler werden als Professoren an die endlich reformierten Kunstakademien berufen. Auch Mackes Bilder finden nun Eingang in die Bestände der Museen. Nur für kurze Zeit, denn im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst” 1937/1938 und der gleichnamigen Wanderausstellung wurden diese Werke von den Nationalsozialisten in den öffentlichen Sammlungen beschlagnahmt. Als Devisenbringer ließen die Nationalsozialisten die von ihnen als „entartet” eingestuften Kunstwerke auf Auktionen in der Schweiz oder über eigens beauftragte Kunsthändler verkaufen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Museen gezwungen, ihren Bestand an expressionistischer Kunst vollständig neu aufzubauen. Viele Bilder sind bis heute verschollen; hin und wieder tauchen einige dieser Arbeiten auf dem Kunstmarkt auf. Vor allem in den 1990er Jahren beginnt ein Prozess der Neubewertung und Wertsteigerung. Heute sind Macke-Ausstellungen echte „Blockbuster“. Die Gemälde aus seinen letzten Schaffensjahren vor dem Ersten Weltkrieg, die „typischen Mackes“, die als Druck auf Tassen und in Kalendern über die Museumsshops mittlerweile Eingang in viele Haushalte und das kollektive Gedächtnis gefunden haben, erzielen heute auf dem Kunstmarkt Werte, die die Million überschreiten und von öffentlich finanzierten Museen kaum noch aufzubringen sind.

Text: Ina Ewers-Schultz

[...] das Rhythmische im Kunstwerk ist ein Gleichnis für das Rhythmische in der Natur selbst.
August Macke 1913